Lesen Sie den ersten Teil des Interviews hier.

Herr Dr. Rusch, was raten Sie Arbeitnehmern, die auf die Abschussliste ihres Chefs bzw. ihrer Chefin geraten sind?

Stephan Rusch: Eines vorweg: Den einen Rat gibt es sicherlich nicht.

Grundsätzlich sollten Betroffene vier wesentliche Bereiche berücksichtigen.

1.      Dokumentation: Eine gute Dokumentation der Geschehnisse, um eventuellen späteren arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen vorzubeugen. Dabei können die goldenen „7 Ws“ weiterhelfen. Wer hat was, wann, wie, wo, womit und warum getan. Wer in dieser Reihenfolge dokumentiert, der/die erfasst die Person des Bossenden, die Handlung, die genauen Zeiten, den Ort der Handlung, die Werkzeuge des Tuns und die Motivation der Bossenden. Zudem sollten zu jeder Handlung bestenfalls Zeugen benannt und vor allem Beweismittel wie E-Mails, Schriftstücke usw. gesichert werden.

2.      Den eigenen Konfliktmanagement-Stil überprüfen: Damit ein Bossing-Geschehen nicht weiter eskaliert, rate ich Betroffenen, den eigenen Konfliktmanagement-Stil zu reflektieren. Als gesichert gilt, dass ein auf Kämpfen (zum Beispiel Vorwürfe machen, Paroli bieten, Kritik äußern) und ein auf Vermeiden (zum Beispiel Krankmelden, Verdrängen, Schweigen) ausgerichtetes Verhalten einen Bossing-Prozess eskalieren lässt. Bestenfalls ist das Verhalten auf eine Problemlösung ausgerichtet, weil ein solcher Konfliktmanagement-Stil deeskalierend wirkt.

3.      Bossing im Unternehmen öffentlich machen: Wichtig ist es, das Bossing-Geschehen im Unternehmen öffentlich zu machen und der Belegschaft davon zu erzählen. Dies sollte jedoch eher neutral erfolgen, da aus der Bystanders-Forschung bekannt ist, dass übertriebenen Erzählungen der Betroffenen weniger Glauben geschenkt werden.

4.      Psycho-soziale Unterstützung in Anspruch nehmen: Am elementarsten ist die psycho-soziale Unterstützung der Betroffenen, die sie sich zwar auch im Unternehmen, aber bestenfalls extern suchen sollten. Psycho-soziale Unterstützung findet sich bei Familie und Freunden, aber auch bei Profis wie Seelsorgerinnen und Seelsorger, Mobbing-Beratungsstellen oder spezialisierten Mobbing/Bossing-Coaches. Sollten sich bereits psychosomatische Problematiken eingestellt haben, empfehle ich unbedingt den Gang zu Ärzten und Ärztinnen und/oder die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Behandlungen.

Auch Führungskräfte suchen Hilfe beim Umgang mit ihrer Führungsrolle und ihren Mitarbeitern. Sind Ihnen Führungskräfte begegnet, die schlechte Führungsqualitäten eingestehen und sich bewusst und nachhaltig für einen konstruktiven Führungsstil entscheiden und diesen praktisch umsetzen? Sehen Sie hier vielleicht sogar einen Trend?

Stephan Rusch: Tatsächlich ist es so, dass oftmals nur das Verhalten der Führungskräfte im Fokus steht. Was mich dabei manchmal ärgert ist die Tatsache, dass die Entscheidungen von Verantwortungsträgern dabei nicht selten im Nachhinein mit einer Oberlehrermanier kritisiert werden. Wir sollten aber nicht vergessen: Wer Verantwortung übernimmt, der macht auch nicht immer alles richtig. Diejenigen, die die Verantwortung aus welchen Gründen auch immer, nicht tragen bzw. tragen können oder wollen, sind hinsichtlich ihrer Geführtenrolle dabei manchmal wenig selbstreflektiert und mit ihrer Kritik häufig ungerecht.

Selbstreflexion = Tote Hose!

Zu Ihrer Frage: Tatsächlich ist mir eine Führungskraft begegnet, die ihr eigenes Verhalten als Bossing eingestuft hat. Das Verhalten dieser Führungskraft hat dazu geführt, dass ein Mitarbeiter langfristig erkrankt ist. Diese Führungskraft hat sich ihr eigenes Fehlverhalten eingestanden und sich nachweislich nachhaltig für einen konstruktiven Führungsstil entschieden. Einen Trend sehe ich hier allerdings keineswegs. Ganz im Gegenteil. Eine Studie von Dieter Zapf von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und englischen Kolleginnen und Kollegen aus dem Jahr 2012 zur Selbstwahrnehmung von Führungskräften konnte zeigen, dass 90 Prozent der befragten Führungskräfte gegen sie behauptete Schikanen bestritten. Sie stuften ihr Verhalten zwar als unpopulär, aber nicht als unangemessen ein. Insgesamt begründeten die befragten Führungskräfte ihr Verhalten mit Stress, zweideutigen Rollen, Personalmangel sowie einem hohen Maß an Konflikten und unangemessenem Verhalten der Geführten. Salopp lässt sich also folgende Gleichung aufmachen: Selbstreflexion = Tote Hose!

Bad Leadership, destruktive Macht, Autokraten: Die Welt ist voll von Bad Leadern. Wie kommt das und was sollten wir bzw. zukünftige Generationen für die Zukunft daraus lernen?

Stephan Rusch: Grundsätzlich möchte ich der Aussage widersprechen, die Welt sei voller Bad Leader. Studien weisen darauf hin, dass zum Beispiel etwa nur vier Prozent der Führungskräfte der dunklen Triade Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie zuzuschreiben sind. Ich denke, dass in der heutigen Arbeitswelt überwiegend engagierte, sozial intelligente und ethische Führungskräfte zu finden sind. Aber ich möchte auch nicht von der Hand weisen, dass es eine nicht unerhebliche Anzahl destruktiver Führungskräfte gibt. Wir können davon ausgehen, dass in Deutschland ca. 8 bis 10 Prozent der 44 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen von Mobbing/Bossing betroffenen sind. Führungskräfte sind daran zu 51 Prozent zumindest beteiligt, wenn nicht gar die Hauptprotagonisten. Da Führungskräfte im Vergleich zu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Führungsverantwortung in der Arbeitswelt deutlich unterpräsentiert sind, müssen wir leider konstatieren, dass wir nicht das Problem mit übelmitspielenden Kolleginnen und Kollegen, sondern tatsächlich mit Führungskräften haben.

Bossende haben ihr Verhalten schon früh erlernt

Für das Verhalten bossender Führungskräfte kann es ganz unterschiedliche Gründe geben. Manche bossen, weil sie Führung einfach nicht besser können, manche bossen, weil sie mikropolitische Ziele – also für sie in der Organisation anzustrebende Ziele – verfolgen, andere bossen, weil sie schlichtweg Spaß daran haben, andere Menschen zu drangsalieren. Grundsätzlich kann man aber davon ausgehen, dass Bossende ihr Verhalten schon früh erlernt haben. Wer als mobbende Schülerin oder mobbender Schüler gelernt hat, dass sich schikanierendes Verhalten lohnt, wird ein ähnliches Verhaltensmuster auch in der Arbeitswelt an den Tag legen.

Von der künftigen Generation der Führungskräfte wünsche ich mir, dass sie die Möglichkeit erhält, sich ausgiebig mit der Entstehung und den Wirkmechanismen der dunklen Seite der Führung auseinanderzusetzen. Erst wenn die Komponenten schlechter Führung verstanden worden sind, ist gute Führung überhaupt erst möglich.

Über den Autor

Dr. Stephan Rusch ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Arbeits- und Organisationspsychologe (M.A.) und Diplom-Verwaltungswirt (FH). Nach über 30-jähriger Tätigkeit als Polizeibeamter/Kriminalbeamter mit 20-jähriger Führungserfahrung lehrt er heute an nationalen und internationalen Hochschulen v. a. zu den Themen Leadership und Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz (u. a. Mobbing, Bossing, Stalking und sexuelle Übergriffe). Darüber hinaus ist er als freiberuflicher Berater tätig.

Sie haben Ihre Laufbahn in den 1980er Jahren bei der Polizei begonnen, waren dann jahrelang in Führungspositionen. Wie hat sich Führungsverhalten Ihrer Meinung nach seitdem verändert? Was hat sich positiv, was hat sich weniger erfreulich entwickelt?

Stephan Rusch: Vielleicht fange ich da einfach mal bei mir selbst an. Nach einem Laufbahnwechsel vom mittleren in den gehobenen Polizeidienst bin ich im Grunde genommen qua Übertragung eines neuen Amtes in eine Führungsposition geraten. Fortan galt learning by doing. Ahnung von Personalführung hatte ich im Grunde genommen keine. Rückblickend und selbstkritisch betrachtet kann ich sagen, dass das eher ungünstig war. Erst die Erfahrungen über viele Jahre und das Lernen von anderen haben mich mehr und mehr in eine – mehr oder weniger gute – Führungsrolle hineinwachsen lassen. Die Bewertung über gutes oder weniger gutes Führungsverhalten bleibt im Übrigen meinen ehemaligen Vorgesetzen und Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen überlassen.

Positiv verändert hat sich meines Erachtens, dass in den vergangenen eineinhalb bis zwei Dekaden – auch bei der Polizei – begleitende Führungskräfteentwicklungsprogramme aufgelegt worden sind und in der Privatwirtschaft vermehrt auf Führungskräfte-Coachings Rückgriff genommen wird, die durchaus einen positiven Einfluss auf das Führungsverhalten nehmen können.

Weniger erfreulich sieht es hingegen nach wie vor bei der Führungskräfteauswahl aus. Insgesamt fehlt es hier selbst im Jahre 2021 bei den Unternehmensverantwortlichen immer noch an genügend Know-how darüber, wie effektive Personalauswahl gestaltet werden kann, obwohl Forschung und Wissenschaft sehr wohl über umfangreiches Wissen verfügt. Hier ist die Wissenschaft gefordert, grundlegende methodische Prinzipien über Publikationen und Beratungen in die Praxis hineinzutragen.

Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews.

Bad Leadership und Bossing Autor: Dr. Stephan Rusch Das Thema Führung wird häufig heroisiert. Die „dunkle Seite“ der Führung und ihre Folgen jedoch bleiben oft unbeachtet. Dabei geht es um mehr: Mit „Bossing“ erniedrigen und entindividualisieren Führungskräfte ihre Mitarbeiter, um Kontrolle und Macht über sie auszuüben – zum Schaden der Betroffenen und des gesamten Unternehmens. Den weitreichenden Schattenseiten der Macht in Form von „Bad Leadership“ und „Bossing“ widmet sich Stephan Rusch mit viel Praxisbezug. Woran erkennt man destruktive Führung, wie entsteht sie und wie geraten Mitarbeiter auf die „Abschussliste“ des Chefs? Was müssen Führungskräfte wissen, um Machtmissbrauch im Unternehmen zu unterbinden? Was sind die Folgen für die Beteiligten, die Mitspieler, das Unternehmen und die Gesellschaft? Welche Präventions- und Interventions-Strategien gibt es, um „Bossing“ gegenzusteuern? Fallvignetten, Beispiele, Interviewauszüge, Selbsttests und weitere Tools unterstützen Sie beim zielgerichteten Umgang mit dem Phänomen – und der Entwicklung einer lebendigen, konstruktiven Führungskultur.

(ESV, uw)