IDW S 11: Erfüllt der lang erwartete Standard zur Prüfung der Insolvenzreife die Anforderungen der Praxis?
Das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland hat mit dem IDW S 11 einen neuen Standard zur Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzgründen veröffentlicht. Für Unternehmensberater zwar nicht bindend, enthält er doch eine Vielzahl hilfreicher Hinweise für die Erstellung von Zahlungsunfähigkeits- und Überschuldungsprüfungen. Leider ist dem IDW dabei nicht der ganz große Wurf gelungen: Zwar wurde die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung umfassend ausgewertet, darüber hinausgehende Auslegungshilfen fehlen jedoch weitgehend.
1 Einleitung
Die Insolvenzordnung (InsO) hat 1999 das Konkursrecht abgelöst, offen blieben bis heute jedoch diverse Fragen zur Ermittlung der Insolvenzeröffnungsgründe. Während sich der Überschuldungsbegriff mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG) in 2008 nachhaltig verändert hat, sind – jedenfalls dem Wortlaut nach – die Insolvenzeröffnungsgründe der eingetretenen und der drohenden Zahlungsunfähigkeit seit Inkrafttreten der Insolvenzordnung unverändert geblieben. Lediglich die Abgrenzung von drohender zu eingetretener Zahlungsunfähigkeit hat mit dem ESUG1 an Bedeutung gewonnen.
Das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. (IDW) hatte auch schon vor dem am 29. 01. 2015 verabschiedeten IDW S 112 Vorgaben zur Feststellung von Zahlungsunfähigkeit (IDW PS 800)3 und Überschuldung (IDW St/FAR 1/1996)4 formuliert.
Der neue IDW S 11 fasst alle Insolvenzeröffnungsgründe thematisch in einem Standard zusammen und löst damit IDW PS 800 und IDW St/FAR 1/1996 ab. Er berücksichtigt die bis dato veröffentlichte Rechtsprechung und enthält diverse Klarstellungen für die Beratungspraxis. Damit richtet sich der IDW S 11 formal zwar wesentlich an Wirtschaftsprüfer und weitere Berufsträger mit Rechtsberatungskompetenz5, allerdings findet er auch außerhalb dieser Zielgruppe – ebenso wie der Standard zur Erstellung von Sanierungsgutachten IDW S 66 – breite Anerkennung. Insbesondere Unternehmensberater werden, wenn sie ein Unternehmen in Schwierigkeiten beraten, sich am IDW S 11 orientieren, um eine mögliche Insolvenzreife zu beurteilen.
2 Überblick über die wesentlichen Regelungen des IDW S 11
2.1 Zahlungsunfähigkeit – Stichtagsbetrachtung
Der IDW S 11 definiert, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Die für die Feststellung einer statischen Liquiditätsüber- oder -unterdeckung verwendeten Informationen müssen vollständig, verlässlich und schlüssig sein.7 Wichtig ist sicherlich der Hinweis, dass die vom Unternehmen zur Verfügung gestellten Daten (nur) auf Plausibilität zu prüfen sind.8 Eine umfassende Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Buchhaltung ist vor dem Hintergrund des oft sehr kurzen Zeitfensters weder sinnvoll noch notwendig. Aus haftungsrechtlicher Sicht sollte jeder Berater allerdings eine umfassende und geordnete Dokumentation der übergebenen Unterlagen sowie der durchgeführten Schlüssigkeitsprüfung erstellen.
Ein hilfreicher Hinweis für die Praxis findet sich in der Definition der vorhandenen liquiden Mittel zum Stichtag. Das IDW weist darauf hin, dass nur bereits vorhandene liquide Mittel in der Berechnung der stichtagsbezogenen Zahlungs(un)fähigkeitsprüfung Berücksichtigung finden. Möglichkeiten einer kurzfristigen Generierung zusätzlicher Liquidität dürfen erst im zweiten Prüfungsschritt, dem Finanzplan, in die Betrachtung einbezogen werden.9
Auch für die Berücksichtigung der Verbindlichkeiten und die Frage, welche der festgestellten Verbindlichkeiten tatsächlich zum Stichtag fällig sind, bietet der IDW S 11 Vorgaben: So wird darauf verwiesen, dass Forderungen mangels alternativer Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien nach dem Gesetz sofort fällig sind.10 Hier bietet es sich an, als Planersteller auch die Kreditoren- und Debitorenliste jedenfalls stichprobenartig auf Plausibilität zu prüfen und dies entsprechend zu dokumentieren. Gleiches gilt für vom Unternehmer behauptete Stundungsvereinbarungen. Insbesondere die vom IDW genannten Stundungsfälle nach „Branchenübung“ oder „Handelsbrauch“11 sollten wegen der mit ihnen verbundenen Darlegungslast nur in Ausnahmefällen herangezogen werden, um die Fälligkeit einer Forderung zu verschieben.
Unbefriedigend bleibt, dass auch bei Anwendung des IDW S 11 die Wahl des Stichtages das Prüfungsergebnis beeinflussen kann.
Beispiel:
Am 31. August 2015 verfügt das Unternehmen über liquide Mittel in Höhe von 100.000 Euro und muss fällige Verbindlichkeiten in Höhe von 110.000 Euro bezahlen. Die Liquiditätslücke beträgt 10.000 Euro oder 9 Prozent. Am 01.September 2015 zahlt das Unternehmen Löhne an seine Arbeitnehmer in Höhe von 50.000 Euro, im Übrigen ändert sich nichts. Mithin verfügt das Unternehmen damit am 01. September 2015 über Finanzmittel von 50.000 Euro und hat fällige Verbindlichkeiten von 60.000 Euro. Die Lücke beträgt weiterhin 10.000 Euro, relativ entspricht dies jetzt einer Liquiditätsunterdeckung von 17 Prozent. Im ersten Fall gilt nach der in der Rechtsprechung genannten 10-Prozent-Schwelle eine Regelvermutung für Zahlungsfähigkeit, im zweiten Fall – bei für das Unternehmen objektiv gleicher Krisenlage – eine Regelvermutung für Zahlungsunfähigkeit.12
2.2 Zahlungsunfähigkeit – Dynamische Betrachtung
Für die Erstellung eines Finanzplans sind im IDW S 11 gleichfalls neue Regelungen definiert. Die dynamische Betrachtung kann, sofern sie nur wenige Wochen umfasst, unmittelbar aus dem ermittelten Finanzstatus abgeleitet werden, ohne dass der Berater zuvor zwingend eine vollumfängliche integrierte Unternehmensplanung erstellen muss.13 Dies stellt gegenüber der Entwurfsfassung eine deutliche Erleichterung in der Bearbeitung entsprechender Beratungsmandate dar.14
Zur Frage, welche Zahlungsein- und -ausgänge im Rahmen eines Finanzplans zu berücksichtigen sind, finden sich im IDW S 11 ebenfalls neue Hinweise:
Das IDW erklärt – leider nur „am Rande“ –, dass auch erwartete Zahlungszuflüsse aus harten Patronatserklärungen berücksichtigt werden können15, jedoch lässt der IDW S 11 eine Erläuterung vermissen, unter welchen Voraussetzungen man von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Zahlung durch den Patron ausgehen kann. Anders als bei einer einfachen Forderung lässt sich im Regelfall die Bonität des Patrons nicht durch Rückschlüsse aus dem früheren Zahlungsverhalten beurteilen. Darüber hinaus ist – gerade in der Krise des zu beratenden Unternehmens – der erforderliche Mittelzufluss durch den Patron oft nennenswert. Reicht hier die einfache Abfrage einer Auskunftei? Oder ist die Bonität des Patrons einer kritischen Würdigung zu unterziehen? Was, wenn der Patron im Ausland sitzt? Bedauerlicherweise hält der IDW S 11 auf diese Fragen keine Antworten parat.
Eindeutig hingegen ist der vom IDW vorgegebene Umgang mit geringfügigen Liquiditätslücken. Zu der im Schrifttum kontrovers diskutierten Frage16 hält das IDW Unternehmen, die über den Planungshorizont eine vorhandene Liquiditätslücke zwar auf unter 10 Prozent reduzieren, nicht aber vollständig schließen können, für nicht erhaltungswürdig.17 Vor dem Hintergrund, dass der relative Wert zufällig ist und sich bei täglicher Prüfung der statischen Liquidität damit stetig ändert, dürfte diese Auffassung des IDW an der Praxis vorbeigehen: Hat ein Unternehmen quasi zufällig zum Stichtag eine absolut kleine Unterdeckung von 100 Euro, wäre es antragspflichtig, wenn es bei ordnungsgemäßer Berechnung der fortgeschriebenen Liquiditätsentwicklung auch künftig entsprechend kleine Beträge nicht direkt bei Fälligkeit zahlen kann.
2.3 Überschuldung
Die neuen Vorgaben des IDW zur Überschuldungsprüfung berücksichtigen die seit der Wirtschaftskrise geltende Überschuldungsregelung des FMStG, wonach eine Überschuldung nicht gegeben ist, wenn der Fortbestand des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist.18 Nur wenn diese Prüfung negativ ausfällt, ist ein Vermögensstatus zu erstellen. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die Regelungen des IDW S 11 für die Herleitung der sogenannten Fortbestehensprognose zwingend einen Finanzplan auf Grundlage einer integrierten Unternehmensplanung vorsehen.19 Der bei nur wenige Wochen umfassenden Zahlungsfähigkeitsprüfungen für möglich erachtete Verzicht auf eine integrierte Planrechnung kann bei der Überschuldungsprüfung aufgrund des deutlich längeren Prognosezeitraums von teils bis zu zwei Jahren nicht analog zur Anwendung kommen.
Eine besonders risikobehaftete Besonderheit bietet das IDW mit der Feststellung, dass es einer Fortbestehensprüfung nicht bedarf, wenn „einfach zu beurteilende Sachverhalte eine Überschuldung ausschließen“.20 Als Beispiel wird das Bestehen eines „ausreichend hohen Rangrücktritts“ vom IDW angeführt. Allerdings bleibt im Dunkeln, wie hoch der Rangrücktritt sein soll, um als ausreichend zu gelten. Vor dem Hintergrund, dass eine handelsrechtliche Überschuldung mit einer insolvenzrechtlichen Überschuldung schon aufgrund der deutlich abweichenden Ansatz- und Bewertungsregeln21 wenig bis nichts gemein hat, dürfte ein Rangrücktritt in Höhe eines festgestellten handelsrechtlichen Negativkapitals sicherlich nicht ausreichend sein. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus das Haftungsrisiko, da die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen dieses Ausnahmetatbestandes beim Unternehmer bzw. dem zur Beurteilung beauftragten Berater liegt.22
Erfreulich ist die ausführliche Darstellung von Besonderheiten beim Ansatz von diversen Aktiv- und Passivposten im Überschuldungsstatus. Insbesondere für bisher nicht näher beschriebene Bilanzposten wie „Aktive latente Steuern“, die zwar theoretisch im Überschuldungsstatus angesetzt werden können, deren Wertansatz aber zuvor kritisch zu prüfen ist23, oder „Pensionsverpflichtungen“, die mit ihrem Ablösewert zu berücksichtigen sind24, hat das IDW nunmehr entsprechende Vorgaben formuliert.
3 Fazit
Dem IDW ist es mit der Veröffentlichung des IDW S 11 gelungen, viele Fragestellungen zu beantworten. Dennoch kann nicht von einem „großen Wurf“ gesprochen werden.
Auch bei Anwendung des IDW S 11 ist das Ergebnis der Zahlungs(un)fähigkeitsprüfung nicht in allen Fällen hinreichend objektivierbar, da der Unternehmer oder sein Berater allein über die Wahl des Stichtages das Ergebnis der Zahlungs(un)fähigkeitsprüfung erheblich beeinflussen kann.
Die Neuregelungen zur Überschuldungsprüfung lassen ebenfalls wesentliche Fragen unbeantwortet: Insbesondere die für Unternehmer wie Berater aus haftungsrechtlicher Sicht oft existenzielle Frage nach dem Umfang des Unternehmenskonzeptes als Basis für eine positive Fortbestehensprognose hat das IDW lediglich mit der vagen Formulierung
„Die Fortbestehensprognose ist das wertende Gesamturteil über die Lebensfähigkeit des Unternehmens in der vorhersehbaren Zukunft. Sie wird auf Grundlage des Unternehmenskonzepts und des auf der integrierten Planung abgeleiteten Finanzplans getroffen“.25
beantwortet.
Für eine Vielzahl von Fragen, die in der Praxis durchaus relevant sind, wird man weiterhin auf konkretisierende Rechtsprechung des BGH warten müssen.