Roland Berger-Studie: „Die digitale Transformation der Industrie“
Die digitale Transformation der Industrie schreitet unaufhaltsam voran – Stichwort Industrie 4.0. Darin sind sich – weitestgehend – alle Experten einig. Die Frage, ob und wie die europäische Wirtschaft hiervon profitieren kann, ist dagegen nicht so eindeutig zu beantworten. Europa steht – so die aktuelle Roland Berger-Studie – an einem digitalen Scheideweg, mit ungewissem Ausgang.
Die Digitalisierung der Wirtschaft ist im vollen Gange. Sie trifft Europa in drei Wellen – zeitversetzt und mit unterschiedlicher Intensität:
- 1.Bereits heute hat die erste Digitalisierungswelle die Automobil- und die Logistikbranche erfasst. Beiden eröffnet sich durch die Digitalisierung – so die Prognose von Roland Berger – bis zum Jahr 2025 ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 445 Milliarden Euro.
- 2.Die zweite Welle wird den Maschinen- und Anlagenbau, die Elektroindustrie sowie die Medizintechnik betreffen. Bis 2025 können die drei Branchen ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 630 Milliarden Euro ausschöpfen.
- 3.Die dritte Welle der Digitalisierung wird die Chemie- und Luftfahrtindustrie erfassen. Diese können eine Wertschöpfung von 175 Milliarden bis 2025 erschließen.
Die tatsächlichen Auswirkungen können aus heutiger Sicht nur erahnt werden. Wie so oft gehen die Prognosen der Experten weit auseinander. Die Spannbreite zeigt die aktuelle Roland Berger-Studie „Die digitale Transformation der Industrie“, die in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) erarbeitet wurde. Zwei Szenarien sind demnach denkbar:
- •Positives Szenario: Deutschland kann bis 2025 – wie oben aufgezeigt – mit einem kumulierten Wertschöpfungspotenzial von 425 Milliarden Euro rechnen – und Europa mit sogar 1,25 Billionen Euro.
- •Negatives Szenario: Gelingt es Deutschland und Europa nicht, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, drohen im gleichen Zeitraum Einbußen von bis zu 605 Milliarden Euro.
Europa muss in Sachen Digitalisierung schnell handeln
Europas Unternehmen dürfen angesichts der Prognose daher keine Zeit mehr verlieren. Der Rückstand zu anderen Wirtschaftsregionen ist bereits heute immens: Unter den Top 20-Firmen der digitalen Industrie, gemessen an der Marktkapitalisierung, finden sich 13 aus den USA, sieben aus Asien – und null aus Europa.
Alle Branchen müssen, so der Appell der Berger-Experten, ein „tieferes Verständnis der digitalen Transformation entwickeln und neue, tragfähige Geschäftsmodelle erarbeiten. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass branchenfremde Marktteilnehmer, die über eine hohe Digitalisierungskompetenz verfügen, die europäischen – klassisch orientierten Unternehmen – aus dem Markt verdrängen, wie es z. B. dem einstigen Weltmarktführer für Mobiltelefone, Nokia, ergangen ist.“
Aktuelles Beispiel ist das Taxigewerbe, welches gerade droht, „ge-ubert“ zu werden – in Anspielung auf den digitalen Dienstleister Uber, der mit einer App den Taximarkt aufwirbelt: „Ob vor einigen Jahren durch Amazon oder zuletzt Uber – diese Beispiele zeigen, wie radikal Marktumbrüche durch die digitale Transformation ausfallen können.“
Stefan Schaible, CEO für Deutschland und Central Europa von Roland Berger Strategy Consultants, rät angesichts des sich rasch verändernden Marktes Dienstleistern und der Industrie, sich schnell auf „dieses neue Wettbewerbsumfeld“ einzustellen. Nach seiner Auffassung sind „neue, unternehmensübergreifende Kooperationen (…) nötig – durchaus auch mit Wettbewerbern, zum Beispiel bei der Pilotierung und beim Aufbau gemeinsamer digitaler Plattformen und Geschäftsmodelle.“
Handeln, bevor es zu spät ist
Das nächste Opfer könnte die europäische – und vor allem die deutsche – Automobilindustrie, werden. Allein das Gerücht, dass der amerikanische Computer-Hersteller Apple in Zukunft ein iCar bauen könnte, versetzte die Autobauer in helle Aufregung. Die Statements von Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG, und Co. klangen ähnlich wie die von Nokia und Microsoft, als Apple 1997 das iPhone präsentierte. In einem Interview mit der Welt am Sonntag äußerte sich Zetsche zwar recht zuversichtlich: „Wir haben lange Erfahrung im Automobilbau, wir haben das Auto erfunden. Und Erfahrung ist in einem so komplexen Geschäft wie dem Automobilbau mit entscheidend.“ Apple fehlt diese Erfahrung, weshalb er den Automobil-Pionieren aus Amerika nur wenig Chancen einräumt: „Wenn wir morgen ankündigten, dass Daimler künftig Smartphones baut, würde das Apple nicht beunruhigen oder aus der Bahn werfen. Und das gilt auch für uns“, so Zetsche weiter. Sicher sein kann er sich indes nicht, weshalb die Ankündigung aus Kalifornien die Aktivitäten in Sachen Car-Connectivity und dem automatisierten Fahren nicht nur beim „Erfinder des Automobils“ sichtlich an Fahrt aufgenommen haben.
Europa kann es (noch) schaffen
Europa hat aber in den Augen der Roland Berger-Experten gute Chancen, „gestärkt aus der digitalen Transformation hervorzugehen“ und das oben prognostizierte Wertschöpfungspotenzial zu heben. Gerade die Digitalisierung eröffne dem alten Kontinent die Chance, den Industrieanteil weiter zu erhöhen – und damit dem offiziellen Ziel der EU-Kommission, bis zum Jahr 2020 den Industrieanteil an der Wirtschaftsleistung der Union von 16 auf 20 Prozent zu erhöhen, näherzukommen. Um dieses Ziel allerdings zu erreichen, müssen alle Akteure in Sachen Digitalisierung an einem Strang ziehen. Drei Herausforderungen müssen, so die Berger-Berater, angegangen werden:
- •Unternehmen müssen ihre digitale Reife erhöhen. Das Problem: Firmen sehen in der Digitalisierung oft nur ein Mittel zur Effizienzsteigerung – was nach Auffassung der Berger-Experten ein Trugschluss ist. Im Fokus müsse – so der Ratschlag der Berater von Berger – vielmehr die Erschließung neuer Wertschöpfungspotenziale stehen.
- •Die europäische Wirtschaft muss zudem ihre Kräfte bündeln, um die Definition gemeinsamer Standards mitzugestalten. Die Stärke der europäischen Wirtschaft liegt immer noch in der Software, die in den Produkten integriert ist. Wenn Europa es nicht schaffe, hier bei der Standardisierung ein gewichtiges Wort mitzureden, laufe die Industrie Gefahr, sich nach amerikanischen oder asiatischen Standards orientieren zu müssen, was den Gestaltungsspielraum für die spezifischen Konfigurationen einschränkt, so die Berger-Experten.
- •Auch die Politik ist aufgefordert, in Sachen Digitalisierung aktiv zu werden. Die Infrastruktur des 21. Jahrhunderts bemisst sich nicht in Kilometer, sondern in Bandbreiten. Hier muss Europa – und vor allem Deutschland – mehr investieren. Dabei darf der Datenschutz nicht vergessen werden. Dieser könne sogar zu einem Standortvorteil für Europa werden, angesichts der Diskussionen um Datensicherheit und Industriespionage bei US-amerikanischen Anbietern.
Um die digitale Wirtschaft besser zu unterstützen, schlagen die Berger-Berater die Gründung eines europäischen „Digital Valley“ vor. Die Vorbilder aus dem Silicon Valley in Kalifornien und Shanghai Shenzhen zeigen, dass gerade die Konzentration von Innovatoren, Venture Capital, Talenten und weiterer Stakeholder wie Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Entscheidungsträgern an einem Ort entscheidend ist, um Innovationen zu entwickeln und schnell zur Marktreife zu führen.
Hintergrund zur Studie
Die Studie basiert auf Daten, die während zweier Workshops mit Industrieexperten sowie einer Umfrage unter mehr als 300 deutschen Top-Entscheidern erhoben wurden. Zusätzlich wurden mit 30 Vorständen und Technologieexperten aus Dax-Konzernen sowie führenden Mittelständlern Einzelinterviews geführt. Weitere Informationen zur Studie finden Sie auf den Seiten von Roland Berger.